Evakuierung aller Lager an den Außengrenzen der EU, jetzt!

+++ eine Augenzeugin berichtet aus einem Flüchtlingslager auf Samos +++ fast 40.000 ohnehin schon traumatisierte Menschen leben unter menschenunwürdigen Bedingungen in Flüchtlingslagern +++ Land M-V lehnt Antrag der LINKEN zur Aufnahme Geflüchteter aus griechischen Lagern ab +++

 

Der Landtag Mecklenburg-Vorpommern hat am 11. Juni über einen Antrag der Fraktion DIE LINKE entschieden. Geflüchtete sollten die grieschichen Lager verlassen und nach MV kommen dürfen. Dass CDU und Konsorten dagegen stimmen würden, war absehbar, aber auch die SPD konnte sich nicht zur Zustimmung überwinden. Der Antrag wurde abgelehnt. In ganz Mecklenburg-Vorpommern haben sich bisher drei Städte - Greifswald, Neubrandenburg und Rostock -  zu sicheren Häfen erklärt. Sie sind bereit, zusätztliche Geflüchtete aufzunehmen, dafür braucht es aber ein Landesaufnahmeprogramm. Dieses ist an dem Unwillen der anderen Fraktionen im Landtag gescheitert.

In Griechenland leben fast 40.000 ohnehin schon traumatisierte Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen in Flüchtlingslagern. Durch Codivd-19 ist ihre Situation nur noch schlimmer geworden. Auch Greifswald hilft hat eine Petition zur Aufnahme von Geflüchteten in Mecklenburg-Vorpommern gestartet. Bis heute haben gerade einmal 1423 (Stand 25.06.2020) Personen unterschrieben.

Manch einem ist ein Wochende auf dem Campingplatz schon zu ungemütlich - wie würde sich jeder von uns erst fühlen, wenn er oder sie hilflos mit tausenden anderen Menschen auf engstem Raum  vor sich hin vegitieren müsste. Ohne sauberes Wasser, Strom, genug Essen oder ärtzliche Versorgung. Wochenlang. Monatelang. Jahrelang. Hoffnungslos. Was bedeutet es für die Menschen vor Ort, jeden Tag an den Außengrenzen Europas auszuharren? Eine Augenzeugin berichtetüber die aktuelle Lage der Geflüchteten auf Samos und deren Gesundheitsversorgung:

 

05.06.2020

2000 Kilometer trennen mich seit einem Monat von meinem Zuhause in Berlin. Ich bin Kinderkrankenschwester und Medizinstudentin und im Moment auf Samos, um hier mit Med‘Equali, einer kleinen NGO, also Nichtregierungsorganisation, die Gesundheitsversorgung des Geflüchtetenlagers sicher zu stellen. Außer uns gibt es noch einen Arzt im Camp und die Médecins Sans Frontières (MSF), die hauptsächlich für die Schwangerenbetreuung und psychiatrische Versorgung zuständig sind, doch nur begrenzte Kapazitäten haben. Wir übernehmen quasi die medizinische Grundversorgung von Kindern und Erwachsenen und in Notfällen können wir Geflüchtete auch an das örtliche Krankenhaus verweisen, allerdings nur in absoluten Notfällen.

Das Camp hier sollte ursprünglich circa 650 Menschen Platz bieten, ein Containerdorf etwas den Hügel hinauf, gut versteckt vor dem verschlafenen Tourist*innenörtchen Vathy. Nun leben hier allerdings über 7000 Menschen, um das Camp herum breitet sich eine Zeltstadt aus, der sogenannte Jungle.

Im Jungle gibt es keine Stromversorgung (in Teilen des Camps übrigens auch nicht und vor einem Monat sind in einem Streit um Elektrizität Kämpfe und mehrere Brände ausgebrochen, viele Menschen haben ihre Zelte und damit ihren gesamten Besitz verloren), kein fließendes Wasser, keine Klos oder Duschen. Gekocht wird über offenem Feuer. Diese Campingatmosphäre, die du und ich ohne passende Ausrüstung keine Woche durchhalten würden, ist für viele Monate bis Jahre Dank des EU Türkei Deals grausame Realität für ohnehin schon traumatisierte Menschen. Sie sitzen fest vor den Mauern der Festung Europa auf Samos, Chios, Lesvos, Kos, Leros und an allen anderen Außengrenzen der EU.

Nachdem am 4. März auf Geflüchtete an der griechisch- türkischen Grenze geschossen wurde, sagte Luise Amtsberg, Sprecherin für Flüchtlingspolitik der Grünen-Bundestagsfraktion, „die Bundesregierung muss deutlich machen, dass vom Schutz der europäischen Grenze niemals eine Gefahr für Menschenleben ausgehen darf." (https://www.spiegel.de/politik/ausland/schuesse-an-griechischer-grenze-europaparlamentarier-fordern-eu-untersuchung-a-c9f01a22-ede4-415e-9dd1-4b9be309095d, Stand 06.06.20)

Dieser Satz ist ignorant und macht mich wütend. Dass schon immer eine Gefahr für Menschenleben durch den Schutz der europäischen Außengrenzen ausgeht, müsste doch nun wirklich auch bei den Grünen schon angekommen sein. Wie viele Berichte von den unhaltbaren Zuständen müssen wir noch hören, wie viele Texte, die an unser Mitgefühl appellieren müssen noch geschrieben werden, die Geschichte wiederholt sich so lange bis wir endlich aus ihr lernen. Also noch ein Text.

Menschenleben sind hier tagtäglich in Gefahr.

In der Klinik ist die Schlange jeden Tag lang so lang, dass wir nicht alle Patientinnen und Patienten sehen können und ab circa 13 Uhr (wir starten um 7 Uhr) können sich keine neuen Menschen mehr anstellen, sie müssen am nächsten Tag früher wieder kommen. Außer donnerstags geht das hier jeden Tag so, Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte, Koordinatorinnen und koordinatoren und Dolmetscherinnen und Dolmetscher arbeiten oft ohne Pause bis in den Nachmittag hinein.

Die Erkrankungen sind meistens auf die unzumutbaren Lebensumstände der Geflüchteten zurückzuführen. Schlimme Infektionen der Haut (weil es keine saubere Kleidung, und kaum Möglichkeiten sich zu waschen gibt), starke Verbrennungen von kochendem Wasser und heißem Fett, Neugeborene die von Ratten gebissen werden, Magen- Darm- Erkrankungen und Mangelernährung (vor allem bei Babys und Kindern, sie brauchen bestimmte Nährstoffe und eine ausgewogene Ernährung, um sich regelrecht entwickeln zu können, Schäden die dabei entstehen sind häufig irreversibel), Kopfschmerzen, Schwindel und muskuloskeletale Beschwerden. Hier sind schon im Mai 35 Grad, im Winter aber auch Temperaturen im einstelligen Bereich und starke Witterung. Das alles müssen viele in einem einfachen Zelt, als das einzige Dach über dem Kopf aushalten. Außerdem ist die zahnärztliche Versorgung miserabel. Zuletzt gab es einen Zahnarzt der 50 Euro nur für die Untersuchung genommen hat, Behandlungskosten von mehreren 100 Euro kamen oben drauf, eine Summe die sich die Geflüchteten natürlich nicht leisten können. Da sich der Zahnarzt mehrfach extrem rassistisch äußerte, musste die Zusammenarbeit mit ihm beendet werden, was bedeutet, dass es aktuell überhaupt keine Versorgung dafür gibt.

Eine besonders vulnerable Gruppe sind Frauen und junge Mädchen. Sexualisierte Gewalt, die viele von ihnen schon vor der Flucht erfahren haben, gibt es auch im Camp. Es ist gefährlich die wenigen vorhandenen Toiletten und Sanitäranlagen zu benutzen, es kommt zu Übergriffen und Vergewaltigungen, besonders nachts. Die Frauen und Mädchen können nach solchen Erlebnissen nur für sehr kurze Zeit, manchmal gar nicht das Umfeld des Täters verlassen, außerdem ist das Camp und der Jungle ein weitestgehend rechtsfreier Raum, es gibt keine Anzeigen, die Polizei schreitet nicht ein.

Eine andere gefährdete und völlig durchs Raster fallende Gruppe sind unbegleitete Minderjährige. Rechtlich haben Sie kaum Möglichkeiten der Versorgung ohne eine erziehungsberechtigte Person, die einwilligt. Wir dürfen sie medizinisch nicht behandeln, sie dürfen das Camp theoretisch nicht verlassen und bekommen kein Geld. Sie sind komplett auf Kleiderspenden und Essenausgaben angewiesen. Ein riesiger blinder Fleck. Es gibt Patenprogramme, aber die reichen lange nicht aus. Manche dealen mit Drogen und sind selbst drauf.

Zusätzlich leiden die Menschen unter den Erkrankungen, die auf die Traumatisierung aus dem Herkunftsland zurück zu führen sind, auf Folter, Vergewaltigung, Krieg, extreme Armut und politische Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit oder der eigenen Homo-, Trans- oder Intersexualität. Die Liste der Diskriminierungen ist lang und so auch die Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen, häufig handelt es sich um psychosomatische und psychiatrische Krankheitsbilder, wir sehen schlimme Selbstverletzungen und Suizidversuche.

Das Coronavirus hat die Lebensbedingungen hier noch verschlechtert. Auch Samos befindet sich im Lockdown, die Wäscherei hat geschlossen, dadurch können die Menschen nicht mehr gegen Krätze behandelt werden, eine extrem belastende Situation. Die Schule für die Kinder und Jugendlichen ist nicht mehr geöffnet, eigentlich sind fast alle NGOs, die sich um die psychosoziale und rechtliche Betreuung  der Geflüchteten gekümmert haben nicht mehr aktiv. Auf die Insel kann nur noch medizinisches Personal unter strengen Kontrollen einreisen und auch hier ist lediglich eine Notfallversorgung möglich. Zuletzt wurden ankommende Geflüchtete auf Samos im örtlichen Gefängnis zur Quarantäne untergebracht, Familien mit kleinen Kindern hinter Gittern.

Der tief verankerte, aber geleugnete Rassismus unserer weißen europäischen Gesellschaft, der hinter der Rechtfertigung für solche Lebensbedingungen, dem fehlendem Zugang zur Gesundheitsversorgung und Bildung steht, zeigt sich auch im Alltag in Vathy. Meine Kolleginnen und Kollegen berichten, dass Geflüchtete in Geschäften nicht bedient würden, oder es zwei verschiedene Schlangen, eine für Weiße, die als erstes dran kommen und eine für Geflüchtete gäbe.

Immer wieder hören wir hier von sogenannten „Pushbacks“, das sind verschiedene staatliche Maßnahmen, mit denen Geflüchtete in der Regel unmittelbar nach dem Überqueren der Grenze, ohne Berücksichtigung ihrer individuellen Umstände und ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen oder Argumente gegen die getroffenen Maßnahmen vorzubringen, zurückgedrängt werden.

Push-backs verstoßen gegen das in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegte Verbot von Kollektivausweisungen. Und trotzdem, zuletzt Ende April gut dokumentiert durch eine Gruppe von Investigativjournalistinnen und -journalisten (https://www.bellingcat.com/news/uk-and-europe/2020/05/20/samos-and-the-anatomy-of-a-maritime-push-back/, Stand 06.06.20), finden solche Maßnahmen auch hier statt. Geflüchtete werden aufgehalten, wieder zurück auf die türkische Seite der der Ägäis gebracht und dort in Detention Centern untergebracht.

Geschützt werden die Grenzen hier auch von deutschen Schiffen. Unter der Flagge von Frontex, der europäische Grenz- und Küstenwache arbeiten unter anderem deutsche Polizistinnen und Polizisten. Jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit und nachmittags wieder zurück zu meiner Unterbringung laufe ich im Hafen von Vathy an einem Schiff der Bundespolizei, Küstenwache Uckermark vorbei, eine große schwarz- rot- gelbe Fahne weht an seinem Deck.

Und dann erinnere ich mich daran, wie die öffentliche Debatte zur „Flüchtlingskrise“ in Deutschland geführt wird, wie darüber diskutiert wird, als gäbe es unterschiedliche gleichberechtigte Meinungen dazu, als gäbe es eine Option Menschen das Leben zu retten, ihnen ein Grundrecht auf Unversehrtheit zu gewähren oder eben nicht.

Das alles erscheint mächtiger als wir es im Einzelnen sind und doch ist es menschengemacht und kann auch nur von uns wieder abgeschafft  und bekämpft werden. Das Coronavirus hat auf erschreckende Art und Weise gezeigt, wie zuvor unmöglich Geglaubtes möglich gemacht wurde, es zeigt uns einmal mehr, dass die Veränderung hin zu einer solidarischen antirassistischen Gesellschaft keine Frage der Möglichkeiten, sondern eine Frage des politischen Willen ist.Beginnen wir mit der Evakuierung aller Lager an den Außengrenzen der EU, jetzt!

 


 

Zurzeit haben wir Probleme ausreichend Spenden zu erhalten, für unsere Arbeit hier auf Samos. Wir benötigen dringend Vitaminpräparate, speziell für Babys und Kinder, aber auch für Erwachsene (zum Beispiel von „Sanostol“ oder „Centrum“), außerdem Zinktabletten oder -pulver. Beides ist in jeder Apotheke erhältlich und frei verkäuflich, da es nicht als Medikament, sondern als Nahrungsergänzungsmittel in Deutschland geführt wird. Leider ist es auch recht teuer.

Wir brauchen wirklich große Mengen davon, da Mangelernährung und Durchfallerkrankungen sehr häufig hier auftreten. Ihr könnt die Sachen direkt kaufen und Pakete packen und sie an die untenstehende Adresse senden, oder Geld spenden, an die untenstehenden Kontodaten und dann kümmern wir uns um den Einkauf. Möglich wäre es auch Hersteller anzuschreiben und um eine Spende der Präparate zu bitten.

Wir sind hier auf jegliche Unterstützung angewiesen, da sich Med‘Equali komplett durch Spenden finanziert und ohne diese Organisation die Gesundheitsversorgung der Geflüchteten auf Samos nicht gedeckt wäre. Wir danken euch von ganzem Herzen!

 

Adresse:                     MedequaliTeam- Mai-Ly Khan

                                    Kanari 23

                                    83100 Vathy

                                    Samos

                                    Greece

                                    +30 694 878 3419

 

Kontoverbindung:     Med’Equali

                                    IBAN: DE05 4306 0967 1046 4829 00