Freie Fahrt in Tallinn

Juliane Jahn

+++ Fünf Jahre kostenloser Nahverkehr in Tallinn +++ Finanzierung über ein Steuermodell +++ Infrastruktur wurde verbessert bei Bustechnik und Verkehrslenkung +++ Umland verliert Einwohner +++ Bleibt das Auto stehen? +++

Aus der Themenreihe: ÖPNV - Frei für alle? Anhand nationaler und internationaler Beispiele beleuchten wir verschiedene Modelle und Finanzierungsmöglichkeiten eines kostenlosen Nahverkehrs. Welche Erfahrungen machten andere Städte? Welchen Nutzen haben die Einwohner und wird der ÖPNV so wirklich attraktiver? Wo liegen die Grenzen? Diese Fragen wollen wir klären. Diesmal das europäische Vorzeigeprojekt Tallinn.

 

In Deutschland klingt es noch wie eine Utopie: Bus und Bahn - kostenlos! In Tallinn, der estnischen Hauptstadt, ist das seit dem 01.01.2013 Realität. Hier kann jeder mit angemeldetem Erstwohnsitz den Nahverkehr im gesamten Stadtgebiet gratis nutzen. Nur Auswärtige müssen ein Ticket kaufen. Mit seinen rund 443.600 Einwohnern ist Tallinn eine der bisher größten Städte mit kostenlosem Nahverkehr.

Während der Wirtschaftskrise in Estland konnten sich viele Menschen die öffentlichen Verkehrsmittel nicht mehr leisten. Die Einführung eines kostenlosen Nahverkehrs hatte also vor allem soziale Gründe. Als man 2012 in Tallinn darüber abstimmen ließ, ob der Nahverkehr für alle Einwohner kostenlos zur Verfügung stehen sollte, stimmte eine überwältigende Mehrheit von rund 75% der Wahlberechtigten per Bürgerentscheid dafür.

Fünf Jahre später schwärmt die Stadt von seinem Vorzeigeprojekt. Die Infrastruktur wurde schnell den neuen Gegebenheiten angepasst: mehrere Fahrstreifen in der Innenstadt wurden zu Busspuren umgebaut, das Ampelsystem bevorzugt Busse und Bahnen. Die Verkehrsbetriebe haben in moderne Hybridbusse investiert, so dass die Luftqualität sich deutlich verbessert hat.

Finanziert wird das Ganze komplett über Steuereinnahmen. Etwa 1000 Euro fließen für jeden Einwohner in die Stadtkasse. Und seit dem der Nahverkehr in Tallinn kostenlos ist, ziehen viele Pendler aus dem Umland in die Stadt. Die Einwohnerzahl ist seit der Einführung um gut 30.000 gestiegen. Mit diesem Mehr an Steuereinnahmen, den gesparten Verwaltungskosten im Ticketverkauf und den gebührenpflichtigen, aber dennoch sehr günstigen, Tickets für Auswärtige machen die Verkehrsbetriebe mittlerweile sogar ein Plus am Jahresende.

Für Tallinn ist das Projekt kostenloser Nahverkehr also ein voller Erfolg. Das Umland ist hingegen eher verstimmt. Seit der Einführung des kostenlosen Nahverkehrs sinken die Einwohnerzahlen im Umland. Dadurch verlieren aber die kleinen Gemeinden wichtige Steuereinnahmen, die sie dringend für öffentliche Einrichtungen wie Schulen oder Kindergärten benötigen.

Überhaupt sind die Fahrgastzahlen trotz der Umstellung nicht rasant angestiegen. Die Angst vor überfüllten Bussen und Bahnen blieb unbegründet. Nach fünf Jahren wird gerade einmal ein Anstieg von ca. 8-10% vermeldet. Viele Bevölkerungsgruppen, die vorher schon günstig oder kostenlos fuhren (Schüler, Studierende, Rentner) sind den öffentlichen Verkehrsmitteln treu geblieben. Neu hinzu kamen vor allem Personen, die sich vorher keine Tickets leisten konnten, oder kurze Wege lieber zu Fuß gingen.

Der Autoverkehr selbst hat sich kaum verringert. Autofahrer steigen anscheinend erst auf Bus und Bahn um, wenn das Autofahren zu unattraktiv wird. Sinkende Ticketpreise reichen alleine nicht aus. Daher hat die Stadt Tallinn in den letzten Jahren auch die Parkgebühren deutlich erhöht. Die Altstadt ist eh schon eine autofreie Zone, vielleicht ginge das an anderen Stellen auch.

Aber auch die Vororte müssen besser an das Verkehrsnetz angebunden werden. Hier sieht Estland noch Handlungsbedarf. Zukünftig soll es mehr Strecken geben und auch die Regionalzüge sollen in das System des kostenlosen Nahverkehrs einbezogen werden. Estland träumt schon davon, das erste europäische Land mit komplett kostenlosem Nahverkehr zu werden.

In Deutschland hingegen wird uns kostenloser Nahverkehr als wahrer Alptraum für den Steuerzahler und den Geldbeutel des Autofahrers madig gemacht. Wie bedauerlich!


https://www.zeit.de/mobilitaet/2018-02/kostenloser-nahverkehr-oepnv-tallinn-estland

https://www.deutschlandfunk.de/kostenloser-nahverkehr-freie-fahrt-ist-in-tallinn-nichts.795.de.html?dram:article_id=410830


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